Zur Beurteilung der Glaubhaftigkeit einer Aussage ist die Aussagegenese aufzuklären, also die Aussageentstehung und Aussageentwicklung. Oder besser ausgedrückt:
Die „Geburtsstunde“ der Beschuldigung
Voraussetzung jeder Aussageanalyse ist eine sorgfältige Aussagegenese. Diese stellt den einzig möglichen Zugang zur Prüfung der Suggestionshypothese dar.
Zur Aussageentstehung wird untersucht, wann, unter welchen Bedingungen, aus welchem Anlass und wem gegenüber erstmals von dem Zeugen etwas über den fraglichen Sachverhalt geäußert wurde. Außerdem ist zu prüfen, wie die Personen die Schilderung entgegengenommen und wie sie im Einzelnen darauf reagiert haben.
Zur Aussageentwicklung wird untersucht, ob, von wem und in welcher Form Befragungen zu diesem möglichen Ereignis durchgeführt wurden und ob es Therapien und/oder Beratungsgespräche gegeben hat. Dubiose „Traumatherapien“ oder Beratungen durch zweifelhafte „Opferhilfen“ wie z.B. Wildwasser, Zartbitter und Zornrot sind geeignet, eine Aussage hochgradig zu beeinflussen oder diese gar durch Suggestion erst hervorzurufen.
Aussageentwicklung: Bedeutung der Aussagegenese
Zentrale Bedeutung kommt im Rahmen der Aussagegenese der Auswertung der frühesten zuverlässig dokumentierten Aussage zu. Sofern es danach suggestive Beeinflussungen gegeben haben sollte, könnten diese zumindest nicht den Inhalt der zeitlich früheren Aussage kontaminiert haben.
Eher unzuverlässig sind Angaben von Bezugspersonen des Zeugen (Aussageempfänger). Einerseits sind die Eltern, Geschwister, Lebenspartner oder enge Freunde in der konkreten Befragungssituation emotional zu stark involviert, andererseits sind diese primär an den erhaltenen Informationen interessiert und achten kaum auf ihr Befragungsverhalten.
Einfluss der engen Bezugspersonen auf die Aussagegenese
Natürlich ist es lebensfremd anzunehmen, dass besorgte Eltern nicht mit den mutmaßlich von einem sexuellen Missbrauch betroffenen Kindern sprechen würden. Damit geht auch eine suggestive Beeinflussung einher, da die Reaktion auf die Äußerung, die von den Eltern gestellten Nachfragen wirken sich allesamt auf die nachfolgenden Aussagen des Kindes aus (Aussageentwicklung). Dies kann andererseits nicht dazu führen, dass die Aussagen dadurch insgesamt entwertet würden, weil sonst ein sexueller Missbrauch von Kindern nicht mehr verfolgbar wäre. Daher kommt es auf das Maß der Einflussnahme an.
Phasen der Aussageentstehung und Scheinerinnerungen
Als Scheinerinnerungen bezeichnet man Schilderungen, von deren Richtigkeit der Zeuge überzeugt ist, obwohl sich diese nicht oder zumindest nicht so zugetragen haben. Dabei handelt es sich demnach nicht um Lügen, sondern um Irrtümer. Diese Scheinerinnerungen entstehen durch (auto-) suggestive Prozesse.
Die Ausageentstehung verläuft nach Steller/Volbert in drei Phasen:
- Wahrnehmung eines Sachverhalts (Wahrnehmungsphase)
- Speicherung im Gedächtnis (Speicherungsphase)
- Verbale Reproduktion (Reproduktionsphase)
In jeder Phase sind Einflüsse auf die Aussage denkbar. Diese können die Aussage derart verfälschen, dass sie mit der ursprünglichen Wahrnehmung (Eingangsinformation) nicht mehr übereinstimmt. Handelt es sich um eine Scheinerinnerung, wirken die Einflüsse jedoch schon in der Phase 1. Es wird nämlich ein suggerierter Sachverhalt in die Erinnerung aufgenommen. Dies gilt es in der Ausagegenese festzustellen.
Aussagegenese „verdrängter“ Erinnerungen
In dubiosen Therapien bedient sich der „Coach“ beispielsweise der Hypnose und anderen suggestiven Verfahren (visuelle Vorstellung (Imagination) von Missbrauchsvorgängen und Rückführungen, Schreibübungen), um angeblich verdrängte Erinnerungen zurückzuholen.
Unterstützt wird dieser Vorgang durch suggestive Literatur, wie z.B. „Trotz Allem“ – Wege zur Selbstheilung für sexuell missbrauchte Frauen, das bundesweit in „Beratungsstellen“ zweifelhafter Opferhilfevereine zum Standardrepertoire gehört.
Die Autorinnen Ellen Bass und Laura Davis schreiben darin beispielsweise:
„Bis jetzt hat noch keine Frau, mit der wir gesprochen haben, zuerst gedacht, sie sei vielleicht missbraucht worden, und später entdeckt, dass es doch nicht stimmte. Es läuft immer anders herum: dem Verdacht folgt die Bestätigung. Wenn du glaubst, du seist missbraucht worden, und dein Leben zeigt entsprechende Symptome, dann stimmt es auch.“
Brass/Davis: „Trotz allem“
Schließlich stellt dieser Ratgeber eine Anleitung zum Erfinden von Realkennzeichen bereit und hebelt dadurch dieses wichtige Kontrollkriterium der Aussagepsychologie aus. Jedoch wie kann man feststellen, ob ein Zeuge auf solche Literatur Zugriff hatte? Immerhin bietet auch das Internet eine unerschöpfliche Quelle, die eine Aussage beeinflussen können.
Nächstes Kapitel: Bedeutung der Erstaussage
Weitere Informationen zur Aussagegenese, insbesondere für lesen Sie Aussageentstehung im folgenden Artikel zur Bedeutung der Erstaussage für die Aussagegenese.