Eigene Sachkunde zur Beurteilung von Aussagen

Ein Gericht kann eigene Sachkunde zur Würdigung von Zeugenaussagen annehmen, denn dies ist grundsätzlich „ureigenste Aufgabe des Gerichts“. Es ist regelmäßig davon auszugehen, dass Richter über eigene Sachkunde bei der Anwendung aussagepsychologischer Glaubwürdigkeitskriterien verfügen, die für Würdigung von Aussagen auch bei schwieriger Beweislage erforderlich ist. Dies soll selbst für die Aussage von Kindern oder jugendlichen Zeugen gelten, z.B. wenn diese Opfer einer Sexualstraftat geworden sind.

Dies gilt aber nur im Normalfall: Erfordert die Beurteilung einer Zeugenaussagen hingegen eine spezielle Sachkunde, über die ein Gericht selbst bei spezifischer forensischer Vorerfahrung nicht verfügt, muss das Gericht einen Sachverständigen hinzuziehen.

Besonderheiten in der Person des Zeugen

Besonderheiten für die Beurteilung der Glaubhaftigkeit einer Aussage können sich ergeben bei Besonderheiten in der Person des Zeugen1, z.B.:

  • Zeuge mit geistiger Erkrankung
  • hysterischer Zeuge
  • Hauptbelastungszeuge mit posttraumatischer Belastungsstörung (PTBS)
  • Hirnschäden oder schwerer Hirnversetzung
  • Epilepsie
  • schizophrene Psychose
  • Drogen- oder Medikamentenmissbrauch
  • schwere Alkoholisierung mit dadurch beeinträchtigter Aufnahmefähigkeit
  • Erinnerungsfähigkeit aus besonderen Gründen eingeschränkt

Daneben kann aber auch die Beurteilung der Glaubwürdigkeit eines kindlichen oder jugendlichen Zeugen die Hinzuziehung eines Sachverständigen erfordern, wenn dieser Zeuge aus dem gewöhnlichen Erscheinungsbild von Altersgenossen hervorstechende Züge oder Eigentümlichkeiten aufweist, deren Beurteilung eine besondere Sachkunde voraussetzt.

Schließlich erfordert die Beurteilung einer psychischen Störung spezifisches Fachwissen, das regelmäßig nicht Allgemeingut von Richtern ist. Dies gilt für vielfach in psychiatrischen Einrichtungen untergebrachten sowie im Aussageverhalten auffälligen Zeugen. Nimmt der Tatrichter dennoch eigene Sachkunde im Hinblick auf die Auswirkungen auf die Aussagetüchtigkeit in Anspruch, so bedarf dies näherer Darlegung in den Urteilsgründen. Stellt die Verteidigung einen entsprechenden Beweisantrag, muss die Darlegung der eigenen Sachkunde schon im Ablehnungsbeschluss erfolgen.

Äußere Umstände der Zeugenaussage

Auch außerhalb des Zeugen liegende Umstände können die Hinzuziehung eines Sachverständigen gebieten. Mögliche Umstände, die die Glaubhaftigkeit beeinflussen können, sind eine besondere Drucksituation sowie ein Autoritätsgefälle durch Familie oder Arbeitgeber. Darüber kann die Hinziehung geboten sein durch Anhaltspunkte für eine suggestive Beeinflussung oder Lagerbildung verschiedener Zeugen.

Das Gericht sollte dann nicht auf seine eigene Sachkunde vertrauen, sondern einen Sachverständigen hinzuziehen.

Psychiatrische Auffälligkeiten des Zeugen

Liegt der Verdacht einer Erkrankung vor, die Auswirkungen auf die Aussagetüchtigkeit des Zeugen hat, reicht ein psychologischer Sachverständiger nicht aus, sondern erfordert zusätzlich die Hinzuziehung eines psychiatrischen Sachverständigen.

Regelmäßig ist ein Psychiater hinzuzuziehen, wenn bestimmte Tatsachen – z.B. selbstverletzendes Verhalten – auf eine psychiatrische Erkrankung, z.B. in Form einer Persönlichkeitsstörung hindeuten. Relevante Persönlichkeitsstörungen sind2:

  • dissoziale Persönlichkeitsstörung (ICD-10: F60.2)
  • emotional-instabile Persönlichkeitsstörung vom Borderline-Typ (ICD-10: F60.3)
  • histrionische Persönlichkeitsstörung (ICD-10: F60.4)
  • anankastische (zwanghafte) Persönlichkeitsstörung (ICD-10: F60.5)
  • ängstliche (vermeidende) Persönlichkeitsstörung (ICD-10: F60.6)
  • abhängige (asthenische) Persönlichkeitsstörung (ICD-10: F60.7)
  • narzisstische Persönlichkeitsstörung (ICD-10: F60.8)

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Ablehnung eines Beweisantrags wegen eigener Sachkunde

Praktisch relevant wird die Frage, ob das Gericht über genügende eigene Sachkunde verfügt, wenn das Gericht einen Antrag auf Einholung eines Sachverständigengutachtens ablehnt. Dazu ist das Gericht gemäß § 244 Abs. 4 Satz 1 StPO sogar befugt, allerdings nur, wenn das Gericht selbst die erforderliche Sachkunde besitzt.

Die bloße Behauptung, die erforderliche Sachkunde zu besitzen, genügt jedoch nicht:

Deshalb hätte die eigene Sachkunde des Gerichts näherer Darlegung bedurft. Eine solche wäre nach § 244 Abs. 6 StPO zunächst im Ablehnungsbeschluss vorzunehmen gewesen, um der Verteidigung eine Reaktion hierauf noch in der Hauptverhandlung zu ermöglichen3.

BGH, Beschluss vom 24.01.2017 – 2 StR 509/16

Trotzdem sind die Möglichkeiten der Strafverteidigung in der Hauptverhandlung überaus begrenzt, denn auf einen Ablehnungsbeschluss ist lediglich die Gegenvorstellung zulässig. Auch ein Ablehnungsantrag dürfte regelmäßig wenig Aussicht auf Erfolg haben. Erst in der Revision wird überprüft, ob die Ablehnung des Beweisantrags zurecht erfolgte, das Gericht demzufolge eigene Sachkunde annehmen durfte.

Eigene Sachkunde bei Gericht und Staatsanwaltschaft

Dieselben Maßstäbe wie dem Gericht obliegen der Staatsanwaltschaft im Ermittlungsverfahren. Wäre das Gericht auf die Unterstützung durch einen Sachverständigen nicht angewiesen, so bedürfte auch die Staatsanwaltschaft ­für die ihr mit der Ab­schlussverfügung abverlangte Verurteilungsprognose dessen Hilfe nicht.


  1. Zusammenfassung nach Miebach, NStZ-RR 2018, 36 []
  2. Einteilung nach ICD-10 m.w.N. []
  3. vgl. SK-StPO/Frister, StPO, 5. Aufl., § 244 Rn. 220; Alsberg/Güntge, Der Beweisantrag im Strafprozess, 6. Aufl., 2. Teil 2. Kap. Rn. 1442 []