Glaubwürdigkeit und Glaubhaftigkeit

„Nirgendwo wird so viel gelogen wie vor Gericht.“

Die Frage der Glaubwürdigkeit spielt gerade in solchen Fällen eine maßgebliche Rolle, in denen keine Sachbeweise existieren. Steht im Sexualstrafrecht Aussage gegen Aussage ist die Glaubhaftigkeit einer Aussage von größter Bedeutung, sofern der Beschuldigte die Vorwürfe bestreitet. Die Aussage des – mutmaßlichen – Opfers stellt dann oft die einzige Grundlage einer Verurteilung dar, was der Frage nach dem Wahrheitsgehalt dieser Zeugenaussage ein besonderes Gewicht verleiht.

Glaubwürdigkeit betrifft nicht die Glaubhaftigkeit einer Aussage

Besser formuliert, also richtig wäre die Frage nach der Glaubhaftigkeit der Aussage, denn Glaubwürdigkeit ist ein Persönlichkeits-, Glaubhaftigkeit dagegen ein Aussagemerkmal. In früheren Zeiten sprach man Zeugen in besserer gesellschaftlicher Stellung, z.B. Ärzten, Beamten, Rechtsanwälten und Polizisten eine höhere Glaubwürdigkeit zu, da sie über einen besseren „Leumund“ verfügten – damit ist es heute weitestgehend vorbei.

Eine Aussage ist nicht wegen der besonderen Persönlichkeit eines Menschen glaubwürdig, sondern aufgrund bestimmter Merkmale der Aussage glaubhaft. Dementsprechend gibt es kein Glaubwürdigkeitsgutachten, sondern ein Glaubhaftigkeitsgutachten, welches der Frage nachgeht, ob die dem Gutachten zugrundeliegende Zeugenaussage glaubhaft ist.

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Die Aussage des Zeugen bei der ersten Vernehmung

Die Problematik nimmt seinen Anfang in der Vernehmung eines Zeugen, überwiegend bei der Polizei. Die Vernehmungsbeamten stehen unter großem Ermittlungsdruck. Man sucht Beweise gegen den Verdächtigen, dafür braucht es eine „gute“ Aussage des Zeugen, die möglichst keine Fragen offen lässt. Dieser – nennen wir es Übereifer – bewirkt oft genau das Gegenteil, nämlich eine schlechte Aussage. Allzu schnell verfällt der Vernehmungsbeamte dann in die Stellung suggestiver Fragen, ergreift einseitig Partei für das angebliche Opfer und ermittelt folglich eben nicht mehr ergebnisoffen.

„Von der ersten Vernehmung hängt also geradezu die ganze Zukunft des Prozesses ab: Hier wird eigentlich fast immer der Sachverhalt endgültig geklärt oder endgültig verschleiert.“
William Stern (1871-1938)

Falsch verstandene Empathie

Diese falsch verstandene Empathie für das mögliche Opfer führt dazu, deren Vernehmung häufig lediglich oberflächlich zu gestalten. Die Schilderung zum fraglichen Kerngeschehen fällt hingegen äußerst knapp aus. Der Zeuge bekommt oftmals geschlossene Fragen gestellt, die leicht zu beantworten sind. Geschlossene Fragen erlauben nämlich eine kurze Antwort, bei der bereits ein „Ja“ oder „Nein“ ausreicht. Diese fehlende Substanz lässt jedoch später vor Gericht keine Prüfung der Aussagekonstanz zu.

Man könnte sogar meinen, die Glaubwürdigkeit des Zeugen wird überhaupt gar nicht mehr hinterfragt. Vielmehr wird ihm geradezu blind geglaubt.

Ein weiteres Problem ist eine fehlende Dokumentation: Wird der Zeuge nur befragt, ohne diese Vernehmung aufzuzeichnen, liegt kein Wortlaut dieser Aussage vor. Dann ist eine Bewertung der Aussage des Zeugen schlicht nicht durchführbar.

Bewertung der Aussage durch Staatsanwaltschaft und Gericht

Eine erste Aussageanalyse erfolgt durch die Staatsanwaltschaft: Genügt die Aussage den Anforderungen, die eine Verurteilung des Beschuldigten erlaubt? Ist die Aussage glaubhaft? Nur dann könnte die Staatsanwaltschaft überhaupt Anklage erheben.

Tatsächlich ist es in der Praxis regelmäßig so, dass die Staatsanwaltschaft eine Aussage so lange zu halten versucht, wie es irgend geht. Richtigerweise sollte die Aussage objektiv bewertet werden, und zwar nach folgenden Kriterien:

  • Enthält die Aussage logische Denkfehler?
  • Verstößt die Aussage in Teilen gegen gesicherte Erfahrungssätze?
  • Ist die Aussage unklar, widersprüchlich oder ersichtlich nicht vollständig?
  • Zeugt die Aussage von einer übermäßigen Belastungstendenz?
  • Hat der Zeuge eine Motivation für eine Falschaussage?
  • Ist die Aussage konstant gegenüber früheren Aussagen (soweit vorhanden)?
Ergebnisoffene Prüfung der Glaubwürdigkeit

Lügen ist anstrengend und setzt eine erhebliche Intelligenz des Zeugen voraus. Hat dieser sich die Aussage nur ausgedacht und nicht erlebt. Er muss sich alle Details ausdenken. Deshalb wird es ihm schwer fallen, diese nach längerer Zeit noch konstant zu schildern. Er kann die entsprechenden Details nicht aus dem Gedächtnis für Erlebtes abrufen, sondern muss sich an seine Lüge erinnern. Das ist alles andere als einfach. Komplexe Lügen kann ein Zeuge kaum widerspruchsfrei erinnern. Er verstrickt sich in Widersprüche, die seine Glaubwürdigkeit arg beeinträchtigen, allerdings nur bei Ergebnisoffenheit der Ermittlungen.

Grundsatzentscheidung des Bundesgerichtshofs (BGH)

Der BGH hat in seiner Grundsatzentscheidung BGHSt 45, 164 entsprechende Kriterien entwickelt, denen Gutachten zur Glaubhaftigkeit einer Zeugenaussage genügen müssen. In dieser Entscheidung hält der 1. Strafsenat am BGH zudem fest, dass es eben nicht um die Glaubwürdigkeit einer Person geht, sondern ausschließlich um die Glaubhaftigkeit einer Aussage. Diese Überprüfung folgt einer festgelegten Methodik:

Nullhypothese als Ausfluss der Unschuldsvermutung

Das methodische Grundprinzip besteht nach dem BGH darin, einen zu überprüfenden Sachverhalt, also die Glaubhaftigkeit der spezifischen Aussage so lange zu negieren, bis die Negation mit den gesammelten Fakten nicht mehr vereinbar ist. Der Sachverständige nimmt für sein Gutachten zunächst an, die Aussage sei unwahr (sog. Nullhypothese). Zur Prüfung dieser Annahme hat er weitere Hypothesen zu bilden. Ergibt seine Prüfstrategie hingegen, dass die Unwahrhypothese mit den erhobenen Fakten nicht mehr in Übereinstimmung stehen kann, so verwirft er diese These. Es gilt dann die Alternativhypothese, dass es sich um eine wahre Zeugenaussage handeln muss.

Realkennzeichen als besondere Qualitätsmerkmale

Zur weiteren Analyse sind aussageimmanente Qualitätsmerkmale heranzuziehen, denen eine indizielle Bedeutung für die Entscheidung zukommen kann, ob die Angaben der untersuchten Person auf tatsächlichem Erleben beruhen. Das Auftreten dieser Realkennzeichen in einer Aussage gilt als Hinweis auf die Glaubhaftigkeit der Angaben.

Aussagepsychologie als Mittel der Beweiswürdigung

Erhebt ein Vernehmungsbeamter einen Sachverhalt wie oben geschildert nur oberflächlich, ist die Aussagekonstanz praktisch nicht zu überprüfen. Es mangelt an Komplexität. Deshalb ist die Glaubhaftigkeit der Aussage im Ergebnis nicht überprüfbar. Denn ein gewisser Detailreichtum gilt als „conditio sine qua non“ der Überprüfbarkeit der Aussage.

Der Staatsanwaltschaft oder dem Gericht bleibt nun, wollen sie die Aussage „retten“, nichts weiter übrig als ein aussagepsychologisches Gutachten zu beauftragen. Zwar wird das Gericht eher dazu neigen, für sich eigene Sachkunde für die Würdigung der Glaubwürdigkeit eines Zeugen in Anspruch zu nehmen, dies greift aber zu kurz. Der BGH hat bereits seit Jahren feste Kriterien aufgestellt, unter welchen Umständen ein solches Gutachten nahezu zwingend einzuholen ist. Daran wird sich das Gericht halten müssen.

Nächstes Kapitel: Grundlagen der Aussagepsychologie

Weitere Informationen zur aussagepsychologischen Begutachtung lesen Sie im folgenden Artikel zu den Grundlagen der Aussagepsychologie.