Klassische Vernehmungsfehler

Vernehmungsbeamte stehen im Sexualstrafrecht unter einem enormen Ermittlungsdruck. Schon vermeintlich kleine Vernehmungsfehler können deshalb zur Entwertung einer Aussage führen. Gut gemeint ist häufig das Gegenteil von gut gemacht – falsch verstandene Empathie für das mögliche Opfer führt zu Fehlern, die später nicht mehr zu beheben sind.

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Die Aussage des Zeugen bei der ersten Vernehmung

Die Problematik nimmt seinen Anfang in der Vernehmung eines Zeugen, überwiegend bei der Polizei. Es braucht es eine „gute“ Aussage des Zeugen, um einen Verdächtigen zu überführen, die möglichst keine Fragen offen lässt. Dieser – nennen wir es Übereifer – bewirkt oftmals genau das Gegenteil, nämlich eine schlechte Aussage. Der Vernehmungsbeamte verfällt in die Stellung suggestiver Fragen, ergreift einseitig Partei für das mögliche Opfer und ermittelt folglich eben nicht mehr ergebnisoffen.

„Von der ersten Vernehmung hängt also geradezu die ganze Zukunft des Prozesses ab: Hier wird eigentlich fast immer der Sachverhalt endgültig geklärt oder endgültig verschleiert.“
William Stern (1871-1938)

Diese falsch verstandene Empathie für das Opfer verleitet dazu, die Vernehmung lediglich oberflächlich zu gestalten. Die Schilderung zum Kerngeschehen fällt äußerst knapp aus. Diese fehlende Substanz lässt später keine Prüfung der Aussagekonstanz zu.

Vernehmungsfehler: „Hauptsünden“ in der Vernehmung

Man sollte meinen, dass Vernehmungsbeamte – noch dazu in Fachkommissariaten – ausreichend geschult sind, um derartige Fehler zu vermeiden. Dennoch sind die im Folgenden aufgezählten Vernehmungsfehler geradezu Klassiker, die immer wieder in Vernehmungen vorkommen. Im schlimmsten Fall führen diese zur Unverwertbarkeit einer Aussage.

  1. Aussagehemmende Faktoren zulassen (anwesende Personen außer dem Zeugen und dem Vernehmungsbeamten, Störungen, Unterbrechungen oder Ablenkungen zulassen)
  2. Vorgeben von Sachverhalten, die erst ermittelt werden sollen (falsch: „Sie sind heute hier, weil sie zu dem sexuellen Missbrauch durch ihren Vater aussagen wollen.“)
  3. Suggestivfragen jeglicher Art stellen, die eine bestimmte Antwort vorgeben und die Aussage deshalb verfälschen. Fragen sind stets offen zu formulieren.
  4. Fragewiederholungen („insistieren“), die verunsichern, weil sie bei dem Zeugen den Eindruck erwecken, man akzeptiere die Antwort auf eine Frage nicht.
  5. Wertende sprachliche Kommentare, etwa „so etwas macht man ja auch nicht“. Dies gibt dem Zeugen vor, welche Verhaltensweisen erwünscht oder unerwünscht sind.
  6. Wertendes Ausdrucksverhalten (Kopfschütteln, nicken, grimassieren, Augenbrauen hochziehen, Augen verdrehen; unpassende, übertriebene Opferempathie)
  7. Einseitige Vernehmung, insbesondere nicht zu allen infrage kommenden Hypothesen.
  8. Wichtige Sachverhalte nicht gründlich genug erforschen, oberflächliche Vernehmung zum Kerngeschehen oder unzureichende Dokumentation der Vernehmung.
  9. Fremde Einflüsse auf die Aussage nicht genügend erforschen und erheben, vor allem zur Aussagegenese (Aussageentstehung und -entwicklung).
  10. Gebrauch einer für den Zeugen fremden oder gar unverständlichen Sprache (etwa Verwendung von Fremdwörtern, missverständliche Worte und Beschreibungen).

Vernehmungsfehler: Fehlerquellen lokalisieren

Fehler in der Vernehmung beeinflussen das Vernehmungsprodukt, die Aussage, entweder bewusst oder unbewusst. Versteht ein Zeuge beispielsweise eine missverständlich formulierte Frage falsch, beeinflusst dies die Antwort. Stellt der Vernehmungsbeamte die Fragen dagegen suggestiv oder wiederholend, wirkt sich dies gerade bei der Zeugenvernehmung von Kindern und Jugendlichen auf deren Aussage ganz erheblich aus.

Es ist Aufgabe der Verteidigung, solche Vernehmungsfehler zu finden und entsprechend damit umzugehen. Fehler in der Vernehmung führen schließlich zu Fehlern in der Aussage. Deshalb ist im Vorverfahren zunächst die Staatsanwaltschaft, danach im Hauptverfahren das Gericht darauf hinzuweisen, dass die Aussage des Zeugen durch Vernehmungsfehler beeinträchtigt sein könnte. Denn falsche Schlüsse, die aus einer insuffizienten Aussage gezogen werden, führen schlimmstenfalls zu einem Fehlurteil.

Demgegenüber ist die Wahrheitsermittlung das Ziel und die Maxime des Strafverfahrens.