Rechtsprechung: Glaubhaftigkeit bei Borderline-Störung

Der Bundesgerichtshof (BGH) hat sich in seiner Rechtsprechung bereits mehrfach mit der Glaubhaftigkeit von psychisch auffälligen Zeugen beschäftigt. Diesen Auffälligkeiten lag in einigen Fällen eine Borderline-Störung zugrunde, genauer gesagt eine emotional instabile Persönlichkeitsstörung vom Borderline-Typ (ICD-10: F60. 31).

Eingangs soll ergänzend auf folgendes hingewiesen werden: Die Begriffe Glaubhaftigkeit und Glaubwürdigkeit werden häufig (auch vom BGH) synonym benutzt. Jedoch geht es in der Aussagepsychologie aber ausschließlich um die Glaubhaftigkeit der Zeugenaussage, nicht um die allgemeine Glaubwürdigkeit dieses Zeugen.

Rechtsprechungsübersicht: Glaubhaftigkeit

Die Problematik entsteht, wenn sich lediglich die Aussagen des Beschuldigten und Opferzeugen gegenüberstehen und andere Beweismittel fehlen. Auch wenn sich Beschuldigte durch Schweigen verteidigen, handelt es sich um einen Fall von „Aussage gegen Aussage“. An die Prüfung der Glaubhaftigkeit der Aussage des einzigen Belastungszeugen stellt die Rechtsprechung dann erhöhte Anforderungen, z.B. hinsichtlich der Aussagekontanz:

Die Beweislage in einer Konstellation „Aussage gegen Aussage“ stellt besondere Anforderungen an die Beweiswürdigung des Tatrichters. Die Urteilsgründe müssen in einem solchen Fall erkennen lassen, dass das Tatgericht alle Umstände, die seine Entscheidung beeinflussen können, erkannt und in seine Überlegungen einbezogen hat.

Bei der tatrichterlichen Beweiswürdigung in einer Konstellation „Aussage gegen Aussage“ ist eine Gesamtabwägung aller relevanten Umstände erforderlich. Hierbei wird regelmäßig eine Auseinandersetzung mit den Umständen zu erfolgen haben, unter denen sich ein mutmaßlich Verletzter erstmals zu belastenden Angaben entschloss. Außerdem wird eine detaillierte Darstellung geboten sein, inwieweit der Belastungszeuge konstante Angaben machte und wie sich der Detailreichtum zwischen verschiedenen Vernehmungen entwickelte.

BGH, Beschluss vom 27.04.2010 – 5 StR 127/10

Rechtsprechung zur eigenen Sachkunde des Gerichts

Fraglich erscheint regelmäßig schon die eigene Sachkunde des Gerichts. Grundsätzlich ist die Beurteilung der Glaubhaftigkeit von Aussagen jugendlicher oder erwachsener Zeugen nämlich ureigenste Aufgabe des Gerichts. Dies gilt allerdings nur im „Normalfall“:

Das Gericht kann sich bei der Beurteilung von Zeugenaussagen grundsätzlich eigene Sachkunde zutrauen. Etwas anderes gilt aber, wenn besondere Umstände vorliegen, deren Würdigung eine spezielle Sachkunde erfordert, die dem Gericht nicht zur Verfügung steht (hier: tatzeitnahe Selbstverletzungen und Suizidalität, die auf eine Persönlichkeitsstörung hindeuten können).

Besondere Umstände können etwa gegeben sein, wenn Tatsachen auf eine Persönlichkeitsstörung eines Zeugen hindeuten, die wiederum einen Einfluss auf seine Aussagetüchtigkeit möglich erscheinen lässt. Da die Diagnose einer Persönlichkeitsstörung und die Beurteilung ihrer Auswirkungen auf die Aussagetüchtigkeit des Zeugen spezifisches Fachwissen erfordert, das nicht Allgemeingut von Richtern ist, bedarf die eigene Sachkunde in einem solchen Fall näherer Darlegung.

BGH, Beschluss vom 28.10.2009 – 5 StR 419/09

Die Frage ist dann regelmäßig, ob das Gericht für die Beurteilung der Glaubhaftigkeit der Hilfe durch einen Sachverständigen bedarf, der ein Gutachten zur Aussagetüchtigkeit (wegen der psychischen Erkrankung) oder Glaubhaftigkeit der Aussage des Zeugen anfertigt.

Namentlich solche Entwicklungs- und Verhaltensauffälligkeiten, die nach den gängigen Diagnose-Instrumentarien auf das Vorliegen einer so genannten Borderline-Persönlichkeitsstörung hinweisen können, könnten Anlass sein, die psychischen Aussagegrundlagen mit Hilfe eines geeigneten, in der Regel psychiatrischen Sachverständigen näher zu untersuchen.

Für die Beurteilung, ob und in welcher Ausprägung eine solche Störung vorliegt und wie sie sich auf Aussageentstehung und -qualität ausgewirkt haben könnte, wird, wenn erhebliche Anhaltspunkte für Auffälligkeiten vorliegen (hier: Häufige Selbstverletzungen mittels Schneiden zur „Entlastung“ bei Problemen), in der Regel die eigene Sachkunde des Gerichts nicht ausreichen.

BGH, Urteil vom 12.08.2010 – 2 StR 185/10

Borderline-Störung und unbewusste Falschbelastung

Staatsanwaltschaft und Gericht denken häufig nur an eine bewusste Falschbeschuldigung. Nicht zu übergehen ist jedoch die Frage, ob auch eine unbewusste Falschbeschuldigung ursächlich für den Vorwurf sein kann. Zu denken ist etwa an Scheinerinnerungen durch Auto- oder Fremdsuggestion. Hierher gehören auch therapieinduzierte Erinnerungen, etwa im Rahmen einer therapeutischen Aufarbeitung. Hierzu führt der BGH aus:

Das Landgericht hat bei der Verneinung eines Falschbelastungsmotivs u.a. darauf abgestellt, dass die Nebenklägerin keinen Anlass gehabt habe, erzwungene sexuelle Handlungen wahrheitswidrig zu behaupten (…)

Das neue Tatgericht wird vor dem Hintergrund der Borderline-Persönlichkeitsstörung der Nebenklägerin die Frage einer unbewussten Falschbelastung durch Auto- oder Fremdsuggestion eingehend zu prüfen haben.

BGH, Beschluss vom 30.06.2015 – 5 StR 215/15

Rechtsprechung zu selbstverletzendem Verhalten

Sehr deutlich hat sich der BGH zu Indizien positioniert, die auf eine Persönlichkeitsstörung hindeuten. Hierzu gehört zuvörderst selbstverletzendes Verhalten durch Ritzen.

Selbstverletzendes Verhalten ist in der Regel Ausdruck einer Borderline-Persönlichkeitsstörung.

Es entspricht der Lebenserfahrung, dass eine als gesichert erscheinende Überzeugung durch die weitere Beweisaufnahme wider Erwarten umgestoßen werden kann.

BGH, Beschluss vom 06.02.2002 – 1 StR 506/01

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Die Rechtsprechungsübersicht wird regelmäßig aktualisiert und erweitert.